Achille Mbembe
Joseph-Achille Mbembe (* Juli 1957 in Otélé) ist ein kamerunischer Historiker, Politikwissenschaftler, Philosoph und Theoretiker des Postkolonialismus. Mbembe lebt in Südafrika.
Leben
Mbembe wurde in Otélé in der Region Centre des zentralafrikanischen Staates Kamerun geboren. Seine Familie gehört dem Volk der Bassa an.[1] Er absolvierte seine Schulausbildung an einem kirchlichen Internat, bevor er 1978 ein Studium an der Universität Yaoundé in der Hauptstadt Kameruns aufnahm. Während der Schul- und Studienzeit war er in der Jeunesse étudiante chrétienne (JE) aktiv und unter anderem als Redakteur für die Zeitschrift der Bewegung Au Large zuständig. Sein Studiums wurde häufig durch Streiks gegen die autoritären Regimes der Präsidenten Kameruns Ahmadou Ahidjo (1924–1989) bis 1982 und dessen Nachfolger Paul Biya unterbrochen, in diesen Zeiten nahm er an Alphabetisierungskampagnen für die ländliche Bevölkerung in ganz Kamerun, den englischsprachigen Westen und den muslimischen Nordens einschließlich Marouas, des großen Handelszentrums im Norden Kameruns, teil. Weitere Reisen führten Mbembe nach Tansania und machten ihn mit der dortigen Form des Sozialismus, Ujamaa, bekannt.
Studien und Lehrtätigkeit
Mbembe studierte von 1982 an der Université Paris 1 Panthéon-Sorbonne und wurde dort 1989 im Fach Geschichte promoviert und legte zusätzlich ein Diplôme d’études approfondies (DEA) am Institut d’Etudes Politiquesf ab. Schon vor Abschluss der Promotion begann er als Dozent (Assistant Professor) für Geschichte an der Columbia University, New York City zu lehren (1988–1991), es schlossen sich Tätigkeiten als "Senior Research Fellow" am Brookings Institute in Washington, D.C. (1991–1992), außerordentlicher Professor für Geschichte an der University of Pennsylvania (1992–1996) und Exekutivsekretär des "Council for the Development of Social Science Research in Africa" (CODESRIA) in Dakar, Senegal (1996–2000) an. 2001 begann er seine Tätigkeit am neu eingerichteten Institute of Social and Economic Research (WISER) an der Witwatersrand-Universität in Johannesburg in Südafrika. Seine dortige Forschung und Lehre unterbrach er mehrfach für Gastprofessuren an der University of California, Berkeley (2001), an der Yale University (2003), an der University of California in Irvine (2004–2005), an der Duke University (2006–2011) und an der Harvard University (2012).[2]
2019 hielt Mbembe als Albertus-Magnus-Professor eine Vorlesungsreihe an der Universität Köln.[3][4]
Seine Schriften wurden ins Arabische, Deutsche, Englische, Niederländische, Polnische, Portugiesische, Rumänische, Spanische und andere Sprachen übersetzt.[5]
Wissenschaftliche Positionen
Seine Forschungsschwerpunkte sind Philosophie, afrikanische Geschichte, Postcolonial Studies sowie Politik- und Sozialwissenschaften.
Afrika als Projektion
Sein bisher bedeutendstes Werk ist das 2000 erschienene Buch De la postcolonie. Essai sur l’imagination politique dans l’Afrique contemporaine (deutsch: Postkolonie. Zur politischen Vorstellungskraft im zeitgenössischen Afrika). In diesem Text argumentiert Mbembe, dass der akademische und populäre Diskurs über Afrika in einer Vielzahl von Klischees gefangen sei, die an westliche Phantasien und Ängste gebunden seien (ebd., S. 3). In Anlehnung an Frantz Fanon (1925–1961) und Sigmund Freud (1856–1939) vertritt Mbembe die Auffassung, dass diese Darstellung nicht die Widerspiegelung eines wirklichen Afrikas ist, sondern eine unbewusste Projektion, die an Schuld, Verleugnung und den Zwang zur Wiederholung gebunden ist. Wie James Ferguson, Valentin-Yves Mudimbe und andere interpretiert Mbembe Afrika nicht als einen definierten, isolierten Ort, sondern als eine spannungsgeladene Beziehung zwischen sich und dem Rest der Welt, die sich gleichzeitig auf politischer, psychischer, semiotischer und sexueller Ebene abspielt.
Nekropolitik als Erweiterung der Foucault’schen Bio-Macht
Mbembe behauptet, dass Michel Foucaults (1926–1984) Konzept der Bio-Macht als ein Gefüge aus Disziplinierungsmacht und Biopolitik nicht mehr ausreiche, um diese zeitgenössischen Formen der Unterwerfung zu erklären. Foucaults Konzepten von souveräner Macht und Bio-Macht fügt Mbembe den Begriff der „Nekropolitik“ hinzu, der über die bloße „Einschreibung von Körpern in Disziplinarapparate“ hinausgeht.[6] An den Beispielen Palästina, Afrika und Kosovo analysiert Mbembe, wie die Macht der Souveränität durch die Schaffung von Zonen des Todes in Kraft tritt, in denen der Tod zur ultimativen Ausübung von Herrschaft und zur primären Form des Widerstands wird.[7]
Globalisierung als Universalgeschichte
In seinem Werk Critique de la raison nègre (deutsch: Kritik der schwarzen Vernunft) analysiert Mbembe die Entstehung des globalen Kapitalismus aus dem transatlantischen Sklavenhandel und seine Weiterentwicklung im Zeichen der neoliberalen Globalisierung, die im selben Geist stattfinde. Voraussetzung der millionenfachen Ausbeutung sei die sprachliche Zurichtung und Entmenschlichung der Auszubeutenden. Deshalb verwendet Mbembe bewusst die von Antirassisten weltweit zurückgewiesenen Vokabeln Rasse und Neger. Sie seien „reale Fiktionen“, rassistische Konstruktionen, die gleichwohl die reale Welt bestimmten.[8]
Politische Positionen
Mbembe ist ein Kritiker der französischen Afrikapolitik, insbesondere des Konzeptes des sogenannten "Francafrique"[1][2][3][4]. Er setzt sich für eine "afrikanische Demokratisierung" [5]und (auch innerafrikanische) Freizügigkeit [6],[7]ein.
Persönliches
Mbembe ist mit der Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Sarah Nuttall verheiratet, die ebenfalls Professorin an der Johannesburger Witwatersrand-Universität ist. Die beiden haben zwei Kinder.[9]
Auszeichnungen
- 2015: Geschwister-Scholl-Preis für sein Buch Kritik der schwarzen Vernunft[10]
- 2017: Wahl zum Mitglied der American Academy of Arts and Sciences
- 2018: Ernst-Bloch-Preis[11]
- 2018: Gerda Henkel Preis[12]
- 2019: Albertus-Magnus-Professur[13]
Veröffentlichungen
Monografien
- Brutalisme. Éditions la Découverte, Paris 2020, ISBN 978-2-348-05749-6.
- Critique de la raison nègre. Éditions la Découverte, Paris 2013, ISBN 978-2-7071-7747-6. Deutsch übersetzt von Michael Bischoff: Kritik der schwarzen Vernunft. Suhrkamp, Berlin 2014, ISBN 978-3-518-58614-3.
- Politiques de l’inimitié. Éditions la Découverte, Paris 2013, ISBN 978-2-7071-7747-6. Deutsch übersetzt von Michael Bischoff: Politik der Feindschaft. Suhrkamp Berlin, Berlin 2017, ISBN 978-3-518-75424-5.
- Sortir de la grande nuit. Essai sur l’Afrique décolonisée. Éditions la Découverte, Paris 2013, ISBN 978-2-7071-6670-8. Deutsch übersetzt von Michael Bischoff: Ausgang aus der langen Nacht. Versuch über ein entkolonisiertes Afrika. Suhrkamp, Berlin 2016, ISBN 978-3-518-58691-4.
- De la postcolonie. Essai sur l’imagination politique dans l’Afrique contemporaine. 2. revidierte Auflage, Karthala, Paris 2005. Deutsch übersetzt von Brita Pohl: Postkolonie. Zur politischen Vorstellungskraft im gegenwärtigen Afrika. Turia + Kant, Wien/Berlin 2016, ISBN 978-3-85132-781-6.
- Du gouvernement privé indirect. Codesria, Dakar 1999
- La naissance du maquis dans le Sud-Cameroun, 1920–1960: histoire des usages de la raison en colonie. Karthala, Paris 1996
- Afriques indociles. Christianisme, pouvoir et État en société postcoloniale. Karthala, Paris 1988
- Les Jeunes et l’ordre politique en Afrique noire. Éditions L’Harmattan, Paris 1985
Beiträge in Fachzeitschriften
- "Pouvoir des morts et langage des vivants : Les errances de la mémoire nationaliste au Cameroun" In: Politique Africaine, N° 22, Oktober 1986, S. 37–73
- "L'argument matériel dans les Eglises catholiques d'Afrique : le cas du Zimbabwe (1975–1987)" In: Politique Africaine, N° 35, Oktober 1989, S. 50–66
- "Le Cameroun après la mort d'Ahmadou Ahidjo" In: Politique Africaine, N° 37, März 1990, S. 117–123
- "Pouvoir, violence et accumulation" In: Politique Africaine, N° 39, Oktober 1990, S. 7–25
- "Avant-propos : Désordres, résistances et productivité" In: Politique Africaine, N° 42, Juni 1991, S. 2–9
- "Ecrire l'Afrique à partir d'une faille" In: Politique Africaine, N° 51, Oktober 1993, S. 69–98
- "Notes provisoires sur la postcolonie" In: Politique Africaine, N° 60, Oktober 1995, S. 76–110
- "Du gouvernement privé indirect" In: Politique Africaine, N° 73, März 1999, S. 103–123
- "A propos des écritures africaines de soi" In: Politique Africaine, N° 77, Oktober 2000, S. 16–44
- "Variations on the Beautiful in the Congolese World of Sounds" In: Politique Africaine, N° 100, Dezember 2005/Januar 2006, S. 71–92
- "La colonie : son petit secret et sa part maudite" In: Politique Africaine, N° 102, Juni 2006, S. 101–128
Mitarbeit
- Die Welt wird schwarz. In: Alix Faßmann, Anselm Lenz, Hendrik Sodenkamp (Hrsg.): Das Kapitalismustribunal. Zur Revolution der ökonomischen Rechte. Haus Bartleby e.V. / Passagen Verlag, Wien 2016, ISBN 978-3-7092-0220-3, S. 105f.
- mit Jean-François Bayart und anderen: L’Afrique de Sarkozy. Karthala, Paris 2008
Mitherausgeber
- mit Sarah Nutall: Johannesburg: The Elusive Metropolis. Nachworte von Arjun Appadurai und Carol A. Breckenridge. Duke University Press, Durham /USA 2008, ISBN 978-0-8223-4262-5.
Vorworte
- Jon Soske, Sean Jacobs (Hrsg.): Apartheid Israel: the politics of an analogy. Haymarket, Chicago 2015, ISBN 978-1-60846-519-4.
- Curt Holtz (Hrsg.): Permanent error: Pieter Hugo. Prestel, München/London/New York 2011, ISBN 978-3-7913-4520-8.
Weblinks
- Profil von Mbembe auf den Seiten der Witwatersrand-Universität (englisch)
- What is postcolonial thinking? | Eurozine (englisch)
- Autorenporträt bei Suhrkamp
- Interview: Achille Mbembe: „Identitätspolitik ist Opium für das Volk“. In: Augsburger Allgemeine, 10. Mai 2018.
- Deutschlandfunk Kulturfragen. Debatten und Dokumente vom 21. Oktober 2018: Migrationspolitik „Wenn es um Afrika geht, verlieren die Menschen den Verstand“
- Séverine Kodjo-Grandvaux: Achille Mbembe dénonce le « brutalisme » du libéralisme, Rezension, in Le Monde, 9. Februar 2020 (französisch)
- Achille Mbembe bei Wikimedia Commons
Quellen
- ↑ ACHILLE MBEMBE auf MARABOUT.DE - PORTRAIT/BIOGRAFIE
- ↑ Profil A.Mbembe bei WISER
- ↑ Universität zu Köln | Albertus-Magnus-Professur - 2019: Achille Mbembe
- ↑ Postkolonialismus-Theoretiker Achille Mbembe ist Albertus-Magnus-Professor 2019, 04.06.2019
- ↑ Sybille Wüstemann: Dr. Achille Mbembe erhält den Gerda Henkel Preis 2018. In: idw-online.de. , 2018-06-11, abgerufen am 2018-06-11.
- ↑ 34
- ↑ Necropolitics. , abgerufen am 2016-10-04.
- ↑ Achille Mbembe: Kritik der schwarzen Vernunft. Suhrkamp, Berlin 2014. Vgl. Detlev Claussen: Vordenker des Postkolonialismus: Reale Fiktionen. taz vom 22. Februar 2015; Ijoma Mangold: Rassismus: Wie rassistisch ist der Westen. In: Die Zeit vom 29. April 2020, S. 45; Achille Mbembe, Kritik der schwarzen Vernunft, Rezensionsnotizen auf Perlentaucher.
- ↑ Wits all the Wiser for its vital literary couple | The Mail & Guardian. , abgerufen am 2020-06-22.
- ↑ Geschwister-Scholl-Preis 2005: Achille Mbembe. In: Geschwister-Scholl-Preis.de. , abgerufen am 2018-05-18.
- ↑ Achille Mbembe erhält Ernst-Bloch-Preis. In: boersenblatt.net. , 2018-05-18, abgerufen am 2018-05-18.
- ↑ Christiane Habermalz: Achille Mbembe: „Der Westen trägt einen Mühlstein von Schuld“, Deutschlandfunk Kultur, 9. Oktober 2018
- ↑ Albertus-Magnus-Professur 2019. , abgerufen am 2019-12-10.
NAME | Mbembe, Achille |
ALTERNATIVNAMEN | Mbembe, Joseph-Achille (vollständiger Name) |
KURZBESCHREIBUNG | kamerunischer Historiker, Politikwissenschaftler, Philosoph und Theoretiker des Postkolonialismus |
GEBURTSDATUM | Juli 1957 |
GEBURTSORT | Malande bei Otélé, Region Centre, Kamerun |
- Politikwissenschaftler
- Politischer Philosoph
- Hochschullehrer (Duke University)
- Hochschullehrer (Witwatersrand-Universität)
- Sachbuchautor
- Literatur (Französisch)
- Literatur (20. Jahrhundert)
- Literatur (21. Jahrhundert)
- Politische Literatur
- Essay
- Träger des Geschwister-Scholl-Preises
- Mitglied der American Academy of Arts and Sciences
- Kameruner
- Geboren 1957
- Mann