Kairologie

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Kairologie bezeichnet die Wissenschaft vom Kairos (griechisch Καιρός) , einem für den Menschen bedeutungsvollen Zeitpunkt. Im altgriechischen Begriffskontext verdichtet sich Kairos allmählich zum „günstigen Zeitpunkt einer Entscheidung“, im biblisch-frühchristlichen Verständnis geht es primär um die von Gott her bedeutungsvolle geschichtliche Zeit. Ein neues dynamisches Verständnis von Kairos entwickelte Karl Hofmann (* 1954). Seine Forschungen ergaben neben Chronos (Zeitablauf) und Äon (Zeitalter), Kairos eine dritte Dimension geschichtlicher Zeiterfahrung. Mit dem Verhältnis von Chronologie und Kairologie in Beziehung zum Thema Geschichtlichkeit hat sich bereits intensiv der deutsche Philosoph Martin Heidegger (1889–1976) auseinandergesetzt. Es lassen sich eine theologische und eine historische Kairologie unterscheiden.

Theologische Kairologie

In der christlichen Theologie ist Kairologie ein Fachbegriff, der heute vor allem im religionspädagogischen Kontext verwendet wird. Er bezeichnet die Wissenschaft von der Hermeneutik der „Zeichen der Zeit“, die bei der Entwicklung des Glaubens zu beachten sind.

Historische Kairologie

Die historische Kairologie versteht sich als neuer Teilbereich der historischen Anthropologie. Sie erforscht die geschichtliche Dynamik des Kairos im Leben der Menschen. Der Ansatz geht davon aus, dass jeder Zeitpunkt bei Menschen, Gemeinschaften oder geschichtlichen Organisationen eine bestimmte dynamische Bedeutsamkeit enthält, die in ihren Wahrscheinlichkeiten bestimmbar sei. Im Hintergrund steht die These, dass die Theoreme der modernen Naturwissenschaft, insbesondere von Quantentheorie und Relativitätstheorie, in der richtigen Entsprechung auch für den Menschen anzuwenden wären. In diesem Sinne grenzt sie sich von allen anderen Humanwissenschaften ab. Denn diese „befassen sich damit nur, sofern sich die Veränderungen des In-Beziehung-seins direkt in irgendwelchen Prozessen und Ergebnissen zeigen“.

Der Begründer dieser Theorie ist Karl Hofmann. Auf der Basis historischer Studien zur Jugendbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Dissertation 1992) entwickelte er das Modell einer bestimmten Verbindung zwischen biografischer und historischer Dynamik. Seit 1992 ist Hofmann Mitglied der International Society for the Study of Time (ISST). l2010 veröffentlichte Hofmann seine Theorie unter dem Titel „Kairos. Navigator der menschlichen Zeit.“ Er leitet das von ihm gegründete Institut für Kairologie und ist Mitbegründer der Kairos Zeitdynamik GmbH & Co. KG. Eine bisher unveröffentlichte Studie von 2014/15, bezogen auf 700 Persönlichkeiten der vergangenen 100 Jahre, hat in Verbindung mit der Hochschule Neu-Ulm eine Bestätigung des Modells erbracht. Weitere Arbeiten dazu mit positiven Ergebnissen wurden an der Hochschule für Technik, Stuttgart, erstellt. Das Unternehmen Kairos Zeitdynamik GmbH & Co. KG vergibt Lizenzen an Kairos-Coaches und-Berater. Die Ausbildung dazu ist von der Steinbeis Hochschule Berlin 2014 zertifiziert worden. Das Modell und seine praktische Weitergabe sind durch Wortmarken geschützt. 2018 veröffentlichte Hofmann zusammen mit dem Unternehmensberater Manfred Sieg das Buch „Mensch 5.0. - Wie Sie mit Kairos der Herausforderung der Zukunft bewältigen“ – eine Zusammenfassung der praktischen Weiterentwicklung der Kairologie.

Inhalt

Die Kairologie geht davon aus, dass sich zwischen Input und Output des Menschen ein wesentlicher Prozess des In-Beziehung-gehens vollzieht. Darin wirken spezifisch menschliche Beziehungskräfte die auf die ganzheitliche Entfaltung von Mensch und Gemeinschaft ausgerichtet sind. Das, was für Menschen bedeutsam ist, verändert sich weder beliebig noch kontinuierlich, sondern im Rahmen von Kreativzeitfeldern, wie zum Beispiel Kairos-Lebensphasen. Ihre Zeiteinheiten gehen aus evolutiven Fortpflanzungszyklen hervor. Sie verwandeln sich auf der Ebene der Menschheit in immer höhere Zeiteinheiten. Sie werden von Hofmann systematisch aufeinander bezogen im sogenannten Global Human Timing System.

Die historische Kairologie geht ferner davon aus, „dass der Geschichtsraum des Menschen ´gekrümmt´ ist durch die Felder der Kreativzeiträume“. Historische Ereignisse und Personen lassen sich demnach nur richtig einschätzen, wenn diese ‚Krümmung‘ berücksichtigt wird. Es wird versucht, die Denkmodelle von Albert Einstein (1879–1955) analog weiter zu führen. In diesem Sinne versteht sich die Kairologie als eine „Relativitätstheorie der menschlichen Vernunft“. Vernünftig ist für sie, was in Relation zum Kairos steht. Insgesamt geht sie davon aus, dadurch sowohl das Maß für die kreative Energie einer Generation wie auch für historische Objektivität bestimmen zu können.

Praktische Anwendung

Gleichzeitig entwickelten sich Instrumente und Konzepte zur praktischen Anwendung der Kairologie. Dabei werden verschiedene Werkzeuge der Kairosanalyse für Coaching und Unternehmensberatung unterschieden, zum Beispiel die Einzelne Kairosanalyse, Team-Kairosanalyse, Unternehmens-Kairosanalyse und Zeit-Geist-Kairosanalyse. Ausgangspunkt ist in allen Fällen die Bestimmung der kairologischen Wahrscheinlichkeitsfunktionen (Kairogramme). Sie können sich sowohl auf einen Zeitpunkt als auch auf Kairos-Zeitkurven beziehen. Auf der Basis von Befragungen lassen sich Zukunftswahrscheinlichkeiten und Empfehlungen für den jeweiligen Kontext ableiten Neben den Kairosanalysen gibt es verschiedene Tools wie beispielsweise die Kairos Uhr®, Lebensphasenkarten, Entsprechungsscheibe usw. um das Wissen zu erschließen und praktisch damit zu arbeiten. Seit 2011 bildet das von Hofmann geleitete Institut für Kairologie in einem „Studiengang Kairoswissenschaft“ Kairostrainer, Kairoscoaches und Kairosberater aus. Der Studiengang wird ab 2020 im Rahmen eines neuen Lizenzmodells von der Kairos Zeitdynamik GmbH & Co. KG weitergeführt. Kairosanalysen werden vor allem bei Personalauswahl und -entwicklung, bei Teambildung und Nachfolgeregelungen in Unternehmen eingesetzt. Sie sollen klären helfen, welche Wahrscheinlichkeiten in den oben genannten Aspekten auf ein Unternehmen zukommen und inwieweit die Erwartungen an das Personal innerhalb eines Unternehmens von beiden Seiten erfüllt werden können. Persönliche Kairosanalysen unterstützen Privatpersonen bei ihrer Persönlichkeitsentwicklung bzw. Entscheidungsfindung. 2015 gründeten Kairostrainer unter der Leitung von Gerd Xeller die Deutsche Gesellschaft für Kairologie e.V. (DGfK) als gemeinnützigen Verein. Sie will „das Wissen über die Kairologie in Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft verbreiten, um Menschen und Organisationen den Zugang zu ihrem Kairos zu ermöglichen“.

Kritik

Das Fachgebiet der historischen Kairologie ist noch jung. Es knüpft an die moderne Naturwissenschaft an, aber die von ihr entwickelten Werkzeuge bedürfen noch der weiteren kritischen Evaluation durch entsprechende Forschungsvorhaben. Ein noch offenes Desiderat ist die breit angelegte quantitative Prüfung ihrer weitreichenden Postulate. Sollten sich die bisher vertretenen Annahmen der erfahrungsbasierten und statistikgestützten Theorie weiter in der Praxis bestätigen, könnte die historische Kairologie ein wesentlicher Schritt zu einer Anthropologie sein, die eine humanwissenschaftliche Antwort auf die Herausforderung der künstlichen Intelligenz darstellt.

Literatur

Englert, Rudolf, Glaubensgeschichte und Bildungsprozeß. Versuch einer religionspädagogischen Kairologie, München 1988

Ganarini, Giuseppe, Kairos, der schwache Herrscher. Die Rolle des Kairos-Begriffes in der Philosophie des Aristoteles (Masterarbeit in Philosophie, Wien 2011, PDF)

Hofmann, Karl, Eine katholische Jugend zwischen Kirche und Welt. Studien zur Sturmschar des Katholischen Jungmännerverbandes Deutschlands, Augsburg, 2. Aufl. 1993

Hofmann Karl, Kairos. Navigator der menschlichen Zeit, Augsburg 2010

Hofmann Karl, Sieg Manfred, Mensch 5.0. Wie Sie mit Kairos der Herausforderung der Zukunft bewältigen, Schwerte 2018

Linne Gabriela, Mein Kairos-Erfolgsweg, Frankfurt 2016

O. Murchadha Felix, Zeit des Handelns und Möglichkeit der Verwandlung. Kairologie und Chronologie bei Heidegger im Jahrzehnt nach Sein und Zeit, Würzburg 1999,19

Scharer Matthias, Wie „wirkt“ Gott im Leben einzelner Menschen? Zu einer theologischen Kriteriologie persönlicher Lebens-/Glaubenserfahrung in kairologischer Absicht, in: Maria Juen, Die ersten Minuten des Unterrichts, Christian education 2013

Sieg Manfred, Lebensplan – Erkenne deinen Kairos, Schwerte 2016, auch als E -Book

Tanner Jakob, Historische Anthropologie. Zur Einführung, Hamburg, 2. Aufl., 2008

Männel Melanie, Entwicklung eines Analyseinstruments auf Basis des kairologischen Lebensphasenmodells zum Einsatz in der Führungskräfteauswahl, Bachelor Thesis, Hochschule für Technik Stuttgart

Schiersner Julia Kairologie, mit Kairos zur erfolgreichen Unternehmensführung von, Hochschule für Technik Stuttgart

Baez Laura Kairos Teamanalyse – Evaluierung und Empfehlungen für die Weiterentwicklung, Bachelor Thesis Hochschule für Technik Stuttgart

Weblinks

Quellen

Zur Differenzierung des Begriffs siehe auch: Giuseppe Ganarini, Kairos, der schwache Herrscher. Die Rolle des Kairos-Begriffes in der Philosophie des Aristoteles (Masterarbeit in Philosophie, Wien 2011, PDF).

Johannes Gründel, Kairos. in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 5, Freiburg 1960 (Sonderausgabe 1986), Sp. 1242-1244.

Karl Hofmann, Kairos. Navigator der menschlichen Zeit, Augsburg 2010,138f.

Vgl. Felix O. Murchadha, Zeit des Handelns und Möglichkeit der Verwandlung. Kairologie und Chronologie bei Heidegger im Jahrzehnt nach Sein und Zeit, Würzburg 1999,19

Englert, Rudolf, Glaubensgeschichte und Bildungsprozeß. Versuch einer religionspädagogischen Kairologie, München 1988. Vgl. auch Scharer Matthias, Wie „wirkt“ Gott im Leben einzelner Menschen? Zu einer theologischen Kriteriologie persönlicher Lebens-/Glaubenserfahrung in kairologischer Absicht, in: Maria Juen, Die ersten Minuten des Unterrichts, Christian education 2013, 78-92

Karl Hofmann, Kairos. Navigator der menschlichen Zeit, Augsburg 2010, 150. Hofmann bezieht sich dabei auch auf Jakob Tanner, Historische Anthropologie. Zur Einführung, Hamburg 2. Aufl. 2008, 290. Demnach erhielt infolge der Chaostheorie der „humanwissenschaftliche Traum, man könnte vielleicht auch im Bereich der Kultur und Gesellschaft einmal eine mit der von Physikern gesuchten ´Weltformel´ vergleichbare ´Menschenformel´ oder ´Lebensformel´ finden, neue Virulenz.“

Karl Hofmann, eine katholische Jugend zwischen Kirche und Welt. Studien zur Sturmschar des Katholischen Jungmännerverbandes Deutschlands, Augsburg, 2. Aufl. 1993.

Abschlussberichte 1-7, Kairos Projekt Hochschule Neu-Ulm 16.12.2014, in: Archiv des Instituts für Kairologie Neusäß

Karl Hofmann, Kairos. Navigator der menschlichen Zeit, Augsburg 2010, 129.

Ebd., 121-136, hier 121.

Manfred Sieg, Lebensplan, 26-55.